„…die an dem Friedhof standen am Ende eines Lebens.“ So eine Textzeile aus dem Song „Von Gott verbrüht“ von der Band Tomte. Es gehört wohl zu dem schwersten Gang im Leben. Der Gang zum Friedhof. Es bedeutet: Für immer Abschied nehmen. Diese Person nie wieder in die Arme schließen zu können. Nie wieder ein herzliches Lachen ernten. Diese Endgültigkeit, die erst an diesem Tage einsetzt und man realisiert ganz langsam: Das war es.
Das Herz ist schwer an diesem Tag. Das Wetter spiegelt mein Innenleben wieder: Stürmisch, kalt & wolkig. Die Kleidung liegt bereit. Eine dunkle Jeans, schwarze Schuhe, schwarzes Hemd und eine Bluse. Ich stand in dem Wohnzimmer, wo er die ganzen Jahre verbrachte- und ich meine Kindheit und Jugend. Der Blick wechselte von den Klamotten zum Fernsehsessel, wo er immer saß.
Noch am Vortag, in Hamburg, durchsuchte ich den Schrank nach dunklen Sachen. Und brach plötzlich in Tränen aus. Die Gedanken, die mir immer wieder sagten: Das ist sein allerletzter Weg. Da hatten wir es wieder: dieses realisieren. Zumindest der Versuch.
Und nun, im Wohnzimmer? Betrachtete ich die Bilder und ließ mich im Fernsehsessel nieder, der wie immer etwas unter den Altersbedingungen knarzte. Erinnerungen kamen hervor. Unter nderem an die letzte Begegnung im Krankenhaus. Es schmerzte innerlich. „Ich kann nicht zur Beerdigung.“ dachte ich. Aber ich muss. Ich möchte.
Ich zog die schwarzen Klamotten an. Eines durfte ich nicht vergessen: Die goldene Kette mit dem Kreuz, welche mir meine Großeltern vor vielen Jahren schenkten. Diese wollte ich mir immer zu besonderen Anlässen aufheben. Was soll ich sagen? Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Zeit kroch so dahin. Aber plötzlich fanden wir uns alle im Auto wieder. Schweigend.
Eine Autofahrt von 2 Minuten, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorkamen.
Nein, es ging in keine Kirche, sondern zum Friedhofsgebäude. Gibt es dafür eigentlich einen konkreten Namen? Ich weiß es nicht. Der kalte Wind wehte uns um die Nasen und nach fünf Minuten wurde die Tür geöffnet. Diese Schwelle zu übertreten. Allein das ist schon mehr als eine Überwindung.
Den Weg durch die weißen Bankreihen. Vorne in der Mitte stand die Urne und daneben ein Bild. Er grinste uns an. Da, die roten Backen. Alles schön dekoriert mit Blumen, Kerzen und Kränzen.
Erste Bankreihe, rechte Seite. Hätte ich mir nicht genug Taschentücher in die Taschen gesteckt, wäre ich wohl verloren gewesen. Eine halbe Stunde blieb, eh es mit der Rede losging.
Ich schaute immer wieder auf die Uhr. Konnte fast nicht auf das Bild sehen. Eine halbe Stunde. 30 quälende Minuten, jedenfalls für mich. Es zerriss mir innerlich das Herz. Ständig dachte ich mir: Ich muss raus. An die frische Luft- jetzt sofort! Es war so erdrückend. Die Stille. Die ruhige Musik im Hintergrund. Hier und da die vereinzelten Schluchzer. Oder jemand zog die Nase hoch. Fast jeder hatte ein Taschentuch griffbereit oder hatte das erste bereits vernichtet. Meine Kehle schnürte sich immer mehr zu. Ich versuchte mich abzulenken. Ich scheiterte kläglich.
11 Uhr. Die Rede. Es folgte ein kleiner Lebenslauf.
Von Geburt an wurden wichtige Lebensschnitte erwähnt. Die Ausbildung. Wie sich die Großeltern kennenlernten. Wie er zu den Kindern und Enkelkindern war. Wie man in das Dorf im Spreewald gelangte. Wann man mit dem Hausbau anfing. Wie sich alles entwickelte.
Bei manchen Aussagen musste ich tatsächlich etwas schmunzeln, bei anderen hatte ich wirklich große Mühe, nicht komplett in Tränen auszubrechen. Alles wurde untermalt mit der passenden Musik, die ihre Wirkung nicht verfehlte.
Dann kam kurz dieser Teil, wo es mit der Gesundheit langsam bergab ging. Der Schlaganfall vor drei Jahren. Und schließlich die letzten Wochen, die sich mit Krankenhausaufenthalten und Kampf abwechselten.
Es war eine wunderbare Rede, das kann man nicht anders sagen. Trotzdem war ich froh, als sich diese dem Ende zuneigte.
Die Urne wurde genommen, wir standen auf. Die Tür raus zum Friedhof wurde geöffnet. Meine Jacke hielt ich in der linken Hand und hakte Oma mit dem rechten Arm ein. Mein Bruder übernahm die Urne und führte uns Richtung Grabstelle an. Als ich raus in die Kälte kam holte ich tief Luft. Es befreite. Raus aus der Stille. Raus aus dem Ort der Trauer.
Der eiskalte Wind legte zu. Und ich: Nur dünn bekleidet. Lungenentzündung? Dicke Erkältung? Es war mir so egal.
Die Urne wurde ins Loch gelassen. Da war sie wieder: Diese Endgültigkeit. Wir waren die ersten, die vortraten. Meine Atemzüge wurden tiefer, das Herz hing halbzerfetzt im Brustkorb. Wir griffen nicht nach dem Sand, nein. Wir entschieden uns für die bunten Blumenblätter und legten noch jeweils eine Rose dazu.
Da standen wir nun und sahen zu, wie sich andere Menschen von ihm verabschiedeten. Selbst starke gestandene Männer wirkten gebrochen.
2 1/2 Stunden später war man geschafft. Jetzt, nach der Beisetzung, kann man anfangen, alles zu verarbeiten. Damit abfinden, dass es das war. Dass er nicht mehr durch die Tür treten wird und sagt: Hier bin ich! Kein Feierabendbier mehr. Nichts.
Und am Ende bleiben nur Fotos, Erinnerungen, eine Todesanzeige und der knarzende Fernsehsessel übrig.