
Vor ungefähr 12 Jahren damit angefangen, irgendwelchen Musikern von Stadt zu Stadt zu folgen, seitdem ist dies noch immer meine allerliebste Freizeitbeschäftigung. Warum? Nun, wenn man auf Tour ist, ist das ein ganz besonderes Gefühl der Freiheit. Mit einer gepackten Tasche in die Züge springen, in der Masse fremder Leute abtauchen, neue oder altbekannte Clubs betreten, Freunde in die Arme schließen und die ganz besondere Atmosphäre aufsaugen, die von Abend zu Abend anders ausfällt. Überredungskünstler und Toumanager Oise hat somit bei mir einen mehr als wunden Punkt getroffen, als er mir im Februar bereits die nächste Solotour von Nathan Gray schmackhaft machte. Kurz darauf Urlaub eingereicht, genehmigt worden und schon stand ich am vergangenen Dienstag mit gepackter Tasche am Bahnhof und direkt hatte mich das familiäre Gefühl erneut im Herzen gepackt.
Meine Route sah folgendermaßen aus:
22.5. Bremen, Modernes
23.5. Leipzig, UT Connewitz
24.5. Berlin, Heimathafen
25.5. Wiesbaden, Ringkirche
26.5. Iserlohn, Dechenhöhle
27.5. Iserlohn, Dechenhöhle
28.5. Offday
29.5. Kassel, Lolita Bar (The Lion & the Wolf und Heart Of Oak)
Nathan stand an diesen Abenden nicht alleine auf der Bühne, sondern hat sich noch den charmanten Ben Christo, der einen mit seinem britischen Akzent regelrecht zum Schmelzen brachte, und Isabelle Klemt, welche das Cello zum Schwingen brachte wie keine andere, eingepackt. Umso gespannter war ich natürlich, wie es sich in diesem neuen Gewand anhören würde. Und was soll ich sagen? In Bremen fiel mir sprichwörtlich die Kinnlade runter als sie mit den ersten Songs starteten und es sich so anfühlte, als würden sie als Trio schon seit vielen Jahren um die Welt reisen. Ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle stand uns bei dieser Tour bevor: Nathan nahm uns mit in seine dunkle Vergangenheit, die mehr als nur einen mächtigen Kloß im Hals, Tränen und Herzstolpern verursachte. Er sprach darüber, wie er als Kind in der Kirche sexuell missbraucht wurde und das über viele Jahre hinweg. Darüber, wie sehr ihn das erlebte immer mehr im Inneren zerstörte und regelrecht auffraß, er sich keiner Person anvertraute und sich alles immer mehr aufstaute. Über die daraus resultierten Dämonen, Selbsthass, Depression, Scham, Aggressionen, Alkoholkonsum. Dinge, in denen sich auch viele im Publikum wiederfanden und teils mit feuchten Augen den Raum verließen. Nathan selbst kämpfte oft mit den Tränen, rang um die richtigen Worte, die er aber dennoch stets fand, auch wenn zwischendurch die Stimme kippte. Wir alle spürten seine Verletzbarkeit, einen gebrochenen Mann, der sein ganzes Leben lang einen harten Kampf führen musste und das ungesehen. Als er Echoes anstimmte, fiel mir direkt eine Sache positiv auf: Während er im Februar bei der Zeile
‚Here in my heart I’ve carved the words: You don’t own me.‚
immer abbrechen musste, weil die vielen Narben noch viel zu sehr bluteten, tief saßen und schmerzten, hangelte er sich durch diesen mehr als schwierigen Engpass durch, auch wenn seine Stimme erzitterte und er die empfundene Qual hier und da rauszuschreien versuchte. Aber er schaffte es. Ohne Abbruch. Er schlug sich durch diesen schwierigen Song durch und gewann. Und das zeigte uns allen, wieviel Stärke Nathan besitzt. Stärke, uns davon zu erzählen. Einem Saal voller Leute. Voller Unbekannter, Freunden, Fans. Eine Stärke, die uns alle an jedem einzelnen Abend beeindruckte und inspirierte. Ich habe tatsächlich noch nie einen Musiker erlebt, der so offen über seine verletzbarste Seite redete und uns zeigte, wer Nathan Gray wirklich ist, uns von all seinen Dämonen berichtete und durchaus positive Worte an uns richtete.
‚You are not alone.‘
Eine Message, die tiefgründiger nicht sein könnte. Denn es ist so unheimlich wichtig zu wissen, dass man nie alleine ist. Dass es dort draussen noch viele andere gibt, die ähnliches erlebt haben, ebenso um ein besseres Leben kämpfen wie man selbst. Dass man füreinander da ist, sich gegenseitig den Rücken stärkt und für sich den richtigen Weg findet, mit dem Erlebten umzugehen, um zumindest einen Teil der großen Last loszuwerden, eh diese einen komplett um den Verstand bringt und man vielleicht seinem Leben ein Ende setzt, weil der Ballast einen erdrückt. Es geht darum ein Zeichen zu setzen, eine helfende Hand zu reichen, wenn der Untergang droht. Eine richtige Richtung einzuschlagen, Schritt für Schritt vorwärts kommt, sich jemanden anzuvertrauen. Drüber reden, einen Austausch zulassen und ich bin mir ziemlich sicher, dass Nathan einige damit erreichen und helfen konnte, nachhaltig.Und somit ist es auch kein Wunder, dass es standing ovations hagelte, er so gerührt war und sprachlos die Hände ins Gesicht schlug.
Aber natürlich saßen wir nicht nur tieftraurig vor der Bühne, da gab es zum Beispiel den einen oder anderen Verspieler, einen kleinen Wettbewerb zwischen Ben und Herrn Gray, wer den Ton am längsten halten kann oder wie wir wirklich alle im Awwww-Rausch waren, weil wir alle direkt Herzchenaugen bekamen, als Ben etwas in seinem britischen Akzent sagte und damit das eine oder andere Mal Nathan einen kleinen aber intensiven Lachanfall entlocken konnte.
Vor dem Auftritt in Berlin enterte Nathan mit seinem Buch ‚Until The Darkness Takes Us‚ und las uns einige ausgewählte Passagen vor, nahm dies auf und ließ direkt sämtliche Hüllen fallen. Es ging um die Art, wie er sich immer selbst sah, dass er seinen Anblick im Spiegel kaum ertragen konnte und so viel Selbsthass in sich trug. Kaum vorstellbar, nicht wahr? Auf jeden Fall musste ich mich da bereits zusammenreißen, um nicht komplett in Tränen auszubrechen. Warum? Weil er Dinge ansprach, die wohl jeder von uns schon fühlte und durchmachte oder es bis heute auch noch der Fall ist. Er spricht uns aus der Seele. Er spricht über die Sachen, für die wir selbst einfach nie die richtigen Worte finden, um sie anderen näher zu bringen. Um einen Einblick zu geben, wie es uns im Inneren geht. Welche Hölle wir im Leisen durchleben. Warum wir gebrochene Menschen sind und wir uns eben nicht eben mal mit einem lässigen Fingerschnippen ändern können, so gern wir das auch wollen.
Iserlohn war natürlich ein Highlight, ging es für das Konzert in eine Tropfsteinhöhle. Während draussen Sommer herrschte, gab es in der Dechenhöhle eine Wohlfühltemperatur von 10 Grad. Wer da natürlich mit kurzen Sachen antanzte, kam nach über einer Stunde leicht ins Frösteln. Eine wunderschöne einzigartige Location. Am Samstag gab es zwei Konzerte, jeweils mit einer Pause dazwischen, damit sich die Leute, die dann nochmal bei Nummer zwei dabei sind, draussen aufwärmen konnten. Klappte bei mir nur so semi. Aber das war gar nicht das eigentliche Problem ander ganzen Sache. Ich merkte schon während der ersten Runde, dass mich gerade ein ziemliches Down heimsuchte. Merkte ich ganz gut daran, dass ich mit Niemanden reden konnte und wollte, obwohl sich gerade ein ziemliches Unheil in meinem Kopf zusammenbraute. Mir fällt da immer die Textzeile von Red Tape Parade ein, die diese Situation mehr als nur auf den Nagel trifft:
‚I’ve got an ocean in my head, but my mouth is a desert and I cannot make it rain.‘
So saß ich nach der ersten Show draußen, depremiert, kaufte noch jemanden eine Karte für die zweite Show ab. Oise war so nett und reservierte weiter vorne einen Platz für mich. So ging es erneut in die erfrischende Kälte, setzte mich auf meinen Stuhl. Die Zeit verstrich nicht, die Leute hinter mir quatschten so viel Müll, dass mir fast der Kragen platzte (normalerweise kratzt mich das nicht weiter, aber wenn ich mich in solch einer Situation befinde, macht mich das alles nur noch aggressiver). Ich hatte das Gefühl, dass alles enger wurde. In meiner Brust, um mich herum. Dieses Tief traf mich wie ein plötzlich auftretendes Unwetter. Ich musste raus, kurz bevor die Musiker die Bühne betraten. Ich glaube sogar, dass ich Ben fast umrannte, Nathan kam mir auch noch entgegen, der mit einem ‚Excuse me‘ an mir vorbei lief. Kaum bin ich am Ausgang angekommen, brach ich vor innerem Schmerz fast zusammen. Die Tränen stiegen an, das Atmen wurde immer schwerer. Ich hatte keinen Schimmer, was der Auslöser war und komme bis heute nicht drauf. Alles war düster, schwer und es zerfetzte mich im Inneren. Ich begann zu laufen, während in der Höhle die ersten Lieder gespielt wurden. Den Weg entlang, den ich zuvor gekommen war. Etwa eine Stunde lang, ein großer Teil davon führte durch einen Wald. Es war stockdunkel. Ich lief, teils steilere Abhänge hoch. Die Suizidgedanken drangen nach vorne und versuchten mich zu vernichten. Alles um mich herum war still, aber in meinem Kopf herrschte ein kaum aushaltbarer Lärm. Ich versuchte regelrecht davon zu laufen. Vor den Dämonen, all den Geistern, die mich scheinbar verfolgten und mich dazu bringen wollten, mein Leben an dieser Stelle, irgendwo in Iserlohn, zu beenden. In dieser Nacht rannte ich um mein Leben und ‚Excuse me‘ waren am Ende doch noch nicht die allerletzten Worte, die ich hören sollte.
Aus diesem Grund sagte ich dann das eigentlich geplante Konzert von The Lion & the Wolf und Heart of Oak am Montag in Berlin ab, da ich eine kurze Pause brauchte, weil mich dieser Vorfall noch immer ängstigte und ich mir erstmal Zeit einräumen wollte, um Sachen zu ordnen. Über den Auslöser nachzudenken. Um die Suizidgedanken zurück in ihre Schublade zu stecken, halbwegs.
Am Dienstag stieg ich in den Zug nach Kassel, um diese oben genannten Herzensmenschen zu sehen.

Kennengelernt, bzw. persönlich begegnet bin ich Tom und Jimmy im letzten Jahr beim Kaos Skola Festival in Schweden. Zwei, die viel Gelassenheit und Humor raushängen ließen und einfach eine gute und entspannte Zeit bei diesem Festival hatten. Zwei, die wahnsinnig große Herzen besitzen und Gold wert sind.
Vor der Lolita Bar schloß mich direkt Jimmy in seine Arme und ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich diese feste Umarmung gebraucht habe, auch die im direkten Anschluss von Tom. Es lag direkt ein Verständnis in der Luft und ich fühlte mich genau an der richtigen Stelle. Gut aufgehoben zwischen talentierten Freunden, die mich versorgten, mich zum Lachen brachten und einfach Gentlemen durch und durch sind, ohne im geringsten spießig zu wirken. Nein, einfach nur echt und liebenswert.
Heart Of Oak eröffnete den Abend. Ein ruhiges Konzert vor aufmerksamen Publikum. Hach, ich liebe seine Auftritte, die Gefühlvoll daherkommen, aber zwischendrin immer mit Anekdoten aufgelockert wird, damit man nicht ganz so tief mit seinen Gedanken sinkt. Sollten wir nicht mal eine Petition starten, damit er öfters durch das Land tourt? Ich wäre definitiv dafür!
The Lion & the Wolf ist mit seiner wundervollen Band unterwegs und ich war gespannt, sah ich ihn bisher immer nur alleine mit seiner Gitarre auf der Bühne stehen. Und ich war wirklich mehr als geflasht! All die Songs bekamen eine ganz besondere Dynamik, eine wahre Bereicherung. Und was mir mehr als positiv auffiel: Würde man in einem Lexikon nach ‚Really Sad Sad Songs‘ suchen, käme darunter direkt ein Foto vom Lion. Aber durch die Band wurde diese Traurigkeit, die mich bei seinen Soloauftritten immer direkt erwischte, gedämmt. Nicht komplett ausgelöscht, aber dadurch, dass man sich zum Beispiel auch mal auf den Schlagzeugbeat fokussieren konnte, hatte der Kopf eben auch die musikalische Vielfalt zu verarbeiten. Ein wirklich wunderschöner Abend, der einige Narben etwas verblassen lassen konnte.
Ich möchte mich gerne bei Nathan Gray, Heart Of Oak und The Lion & the Wolf bedanken. Für all die Umarmungen, das Verständnis, die warmen Worte. Ich bin unheimlich froh, euch in meinem Leben zu haben. Als talentierte Musiker, als Ansprechpartner und Inspiration, als Freunde. Und natürlich darf man Oise definitiv nicht vergessen, diesen gutgelaunten bayrischen Tourmanager, der mit seinem Lachen alle um den kleinen Finger wickelt und einfach Number 1 ist!
Danke!
The Lion & the Wolf und Heart of Oak
02.06. Freiburg, Swamp (+ Citizen Tim)
03.06. Köln, Nachtigall
Nathan Gray
16.08. Hamburg, Sommer in Altona
17.08. Augsburg, Parktheater
18.08. Nalbach, Akustik Open (mit Matze Rossi, John Allen, Citizen Tim,…)
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